Diskussionspapier

 

Die Winterwanderungen der großen Tiere

 

Legende oder ökologische Notwendigkeit?

 

 

„Bayerwald-Hirsche waren in früheren Zeiten im Winter an der Donau und in den Tallagen von Ilz und anderen Bayerwaldflüssen; der Wald zwischen  Dreisessel und Arber war im Winter verwaist und damit nahezu frei von großen Pflanzenfressern.“

 

So, oder so ähnlich lautet die gängige Meinung der meisten Waldler, Förster und Jäger im bayerisch-böhmischen Grenzland, wenn es um den „König des Bayerwaldes“ oder gar um seine nacheiszeitlichen Mitbewohner des Böhmischen Massivs, wie Elch, Wisent und diverse andere Großtiere geht. 

 

Diese Betrachtungsweise beruht im Wesentlichen auf der Annahme, dass die Wildtiere durch hohe Schneelagen und einen dadurch bedingten winterlichen Nahrungsmangel zur nahezu vollständigen Abwanderung aus den höheren Böhmerwaldlagen in die schneeärmeren Auenlagen gezwungen gewesen wären.

 

Ein solches Szenario ist vorstellbar bei flächendeckend angenommenem Hochwald - falls es Derartiges vor menschlichem Einfluss je gegeben haben sollte -, nicht aber bei größerflächigen Jungwald- Bereichen wie sie jetzt vielfach das Landschaftsbild beider Nationalparks prägen und sicher auch in früheren Zeiten in mehr oder weniger großem Ausmaß immer vorhanden waren.

 

Ebensowenig passen die eindrucksvollen und nahrungsreichen Verbuschungs-Stadien, wie sie im Nationalpark Böhmerwald großflächig den Lauf der Sukzession bestimmen, in das gern gezeichnete Bild von den „nahrungsarmen Hochlagen“...

 

(ob es sich bei diesen Sukzessionsflächen [sowohl in Richtung Wald, als auch (bei hohen Tierdichten) möglicherweise wieder zurück zum Offenland] um sogenannte Primär- oder um sogenannte Sekundär-Lebensräume handelt,  spielt eine untergeordnete Rolle, da beim derzeitigen Stand der Wissenschaft beide Varianten für möglich gehalten werden müssen).

 

Die bisher vielfach als Fakt angenommene nahezu vollständige winterliche Abwanderung der großen Pflanzenfresser in die Tallagen, bzw. wie vermutet sogar bis in die Donauauen muss auch vor dem Hintergrund neuerer Erkenntnisse aus diversen Groß-Weideprojekten zunehmend in Frage gestellt werden.

 

Im Einzelnen sprechen folgende Gesichtspunkte für eine gründliche Überprüfung der bisherigen (vielfach unkritisch übernommenen) Sichtweisen und ihrer wissenschaftlichen Grundlagen:

 

 

Die Fakten

 

  • Alljährlich überwintert sowohl im Nationalpark Bayerischer Wald wie auch im Nationalpark Böhmerwald eine mehr oder weniger große Anzahl von freilebenden Rothirschen außerhalb der Wintergatter ohne jegliche Fütterung in den tief verschneiten Bergregionen

·         Es gibt demnach ganz offensichtlich auch in den höheren Lagen des Böhmischen Massivs sehr wohl zur Überwinterung geeignete Habitate für große Herbivoren

  • Die Attraktivität dieser Habitate als Winterlebensraum steigt zudem von Jahr zu Jahr erheblich, da sich die derzeit rund 5.000 ha großen Borkenkäferflächen allein auf bayerischer Seite zu einem Lebensraum mit - auch im Winter - nahezu unbegrenztem Nahrungsangebot in Form von teilweise massiver und großenteils bereits die Schneedecke durchstoßender Naturverjüngung aus den verschiedenen vorkommenden  Gehölzarten und einer zusätzlichen artenreichen Schlagflur entwickelt haben
  • Die Kapazität des Lebensraumes als Ernährungsgrundlage für große Pflanzenfresser ist dadurch so immens gestiegen, dass auch einer weiteren Vermehrung dieser frei-überwinternden Rothirsche zumindest vom Nahrungsangebot her vorerst keine Grenze gesetzt ist.

 

 

 

 

Aber der Schnee...

 

Bis zu einer Höhenlage von etwa 700 m sind Schneehöhen von mehr als einem Meter eher die Ausnahme.

Ein Meter Schneehöhe schränkt die Bewegungsfreiheit der größeren Pflanzenfresser aber kaum ein, sodass bis etwa zu dieser genannten Höhenlinie von 700 m aus meiner Sicht bei Vorhandensein von entsprechend erreichbarer Gehölznahrung keine Abwanderung in großem Stil notwendig ist (Himbeeren, Brombeeren und sogar Hochstauden ragen ebenfalls noch deutlich über einen Meter Schnee hinaus und sind daher als wertvolle Winternahrung mehr oder weniger voll nutzbar, zumal bei dieser Schneehöhe auch durch Freischarren oder -schieben (Wisent) noch weitere Nahrungspflanzen erreichbar sind).

 

Bei Schneehöhen von über einem Meter in den höheren Lagen wird es zwar für alle „Großen“ langsam mühsam, jedoch ändert sich die Trittfestigkeit der Schneedecke im Laufe eines Winters durch den Wechsel von Frost und Tauwetter, sowie durch Windeinfluss erfahrungsgemäß mehrfach so gravierend, dass es z. B. immer wieder zu beobachten ist, wie auf hochgelegenen Weiden am Dreisesselsüdhang Islandpferde über betonharte ca. 1,5 m hohe Schneelagen munter galoppierend - aber kaum Hufspuren hinterlassend - über ihren tief im Schnee unsichtbaren Zäunen dahinrennen.

Bei längerem Tauwetter kann sich dies ins Gegenteil verkehren und verlangt die Fähigkeit von den (Wild-)Tieren, mehr oder weniger lange Hungerperioden durchzustehen, was aber bekanntermaßen physiologisch „vorgesehen“ ist und daher bei vitalen Tieren nur im Extremfall zu Verlusten führt.

Nachtfröste machen aber regelmäßig auch im Frühjahr den tiefsten Schnee wieder trittfest, so dass als Fazit bleibt:

 

Schnee baut sich schichtenweise auf und jede Schicht verfestigt sich in mehr oder minder starkem Maße (auch die Tiere selbst verfestigen Schneelagen durch ihr flächiges Betreten Derselben in äsungsreichen Teil-Arealen), so dass nur stark behindernde Neuschneeauflagen von über einem Meter auch ggf. über bereits verfestigten Schichten der einzig wirklich limitierende Faktor sind, der aber, abgesehen von Verwehungen, sehr selten vorkommt.

 

Hierzu gibt es interessante Erfahrungen aus Skandinavien, die ein erhellendes Licht auch auf unsere Verhältnisse werfen können:

Wenn nach den ersten stärkeren Schneefällen die Nahrung im offenen höhergelegenen Fjell knapp wird, überwintern Tausende von Rentieren in den, unseren Hochlagen absolut vergleichbaren, borealen Wäldern bei ebenfalls vergleichbaren Schneehöhen (bis max. ca. 1,90m; so z. B. im Kekkonen-Nationalpark  mit über 20.000 (halb-domestizierten) Rentieren auf ca. 2.550 qkm). Siehe dazu auch folgenden link:    http://www.muschelschutz.de/finnland.php.

 

Und auch hier spielt die wechselnde Trittfestigkeit der Schneedecke eine wichtige Rolle, wobei sich bei zunehmender Schneehöhe den Tieren immer bessere Nahrungsresourcen erschließen, nämlich die bei zu geringer Schneelage unerreichbaren, weil zu hoch hängenden Zweige, Knospen und Baumflechten.

Bis ca. 80 cm Schneehöhe wird von den Rentieren allerdings auch noch Futter freigegraben.

 

Ein Weiteres, was zu denken geben sollte, ist die Tatsache dass das Rentier noch lange auch in unseren gemäßigten Breiten vorkam:

 

„So gab es in Norddeutschland noch während der Zeit des Römischen Reiches wildlebende Rene, in Polen überlebten sie sogar bis ins Mittelalter. Vermutlich trifft den Menschen eine Mitschuld am Verschwinden der Tiere aus den gemäßigten Zonen“

(aus Wikipedia: „Ren“)

 

Wir hätten also ohne menschliches Einwirken vermutlich auch heute noch mit dem Einfluss dieser Tierart auf  unsere Vegetation und die mitteleuropäischen Landschaften zu rechnen und das bei der unzweifelhaften Neigung dieser Tiere, ggf. in riesigen Herden zu leben und bevorzugt in kalten und schneereichen Wald-Regionen zu überwintern............

 

Die Notwendigkeit einer spezifisch schneehöhen-bedingten winterlichen Abwanderung der Großtiere aus den höheren Lagen des Grenzgebirges ist somit ebenfalls in Frage zu stellen.

 

 

Ein Wort noch zum Thema „Beutegreifer und Schnee“:

 

Wolfsgroße Beutegreifer haben bereits ab ca. 50 cm Schneehöhe größte Probleme, größeren Pflanzenfressern mit erfolgversprechenden Geschwindigkeiten hinterherzukommen. Die langbeinigeren Hirsche, Elche, Pferde, (Rentiere!) usw. laufen ihnen auf und davon (Elche sind bis ca. 80 cm Schneehöhe in der Fortbewegung noch nahezu unbeeinträchtigt!). Erst wenn´s tiefer und nasser wird kann sich das umkehren und Frostnächte können die Sache wiederum schnell in die andere Richtung drehen, so dass sicher meist ein recht ausgeglichenes Verhältnis zwischen erfolgreicher Flucht auf der einen Seite und erfolgreichem Beutezug auf der anderen Seite besteht.

 

(Nochmals Wikipedia „Ren“: „Die natürlichen Feinde des Rens sind Wölfe, Vielfraße, Luchse und Eisbären. Gesunde Tiere wissen sich allerdings diesen Feinden durch ihre Laufstärke zu entziehen“.)

 

Eine obligatorische winterliche Überlegenheit von Beutegreifern ist somit nicht zu erkennen.

 

 

Sollten aber trotz alledem dennoch Hirsche und früher auch noch andere Großtiere so regelmäßig und in ganzen Beständen wie landläufig angenommen, von der Wanderlust befallen gewesen sein, dann stellt sich last not least die Kernfrage, ob eine solche Wanderbewegung in der vorgestellten Form überhaupt möglich war, da die wandernden Tiere ja bei ihrem Weg in die angenommenen Winterhabitate auf Lebensräume in den Flusstälern gestoßen wären, die von ihren Artgenossen vermutlich bereits satt besetzt waren – mit welcher Akzeptanz könnten die Gebirgler in dieser Situation der Nahrungsknappheit bei der Verwandtschaft im Unterland wohl rechnen...?!

 

Zudem verwandeln regelmäßige Hochwässer und winterlicher Eisgang, bzw. nach Hochwässern lange bestehende stabile Eisdecken attraktive Nahrungsgründe in Auenlandschaften immer wieder über Nacht und dann ggf. einen ganzen Winter lang in äußerst ungemütliche Lebensräume, so dass, wollen sie nicht dem Hungertod anheimfallen, die Herbivoren die Auen großräumig wieder in Richtung höhere Lagen verlassen müssen, womit ganz entgegen der gängigen Vorstellung wieder eine winterliche Wanderungsbewegung gerade in die umgekehrte Richtung - nämlich in Form einer Schwingung der gesamten Pflanzenfresserbestände bergwärts – stattgefunden haben müsste.

Bei diversen Groß-Beweidungsprojekten bspw. an der westfälischen Lippeaue ist dies auch ganz aktuell in der heutigen Zeit wieder regelmäßig zu beobachten.

 

Abgesehen von oben Gesagtem gibt es ja auch noch die interessante Beobachtung, dass die in „Yellowstone“ wiederangesiedelten Wölfe die dortigen Wapitis ausgerechnet aus den Flussauen vertrieben haben sollen...

 

 

 

 

Fazit:

 

Das Bild von der obligatorischen winterlichen Abwanderung der großen Weidegänger aus der Region des höheren Böhmerwaldes erscheint als zu einfach und zudem sehr fragwürdig, angesichts der Tatsache, dass in absolut vergleichbaren Regionen der skandinavischen Länder Großtiere zu Tausenden eben solche borealen Wälder mit ebensolchen Schnee- und Temperaturverhältnissen traditionell als Winterlebensraum nutzen.

 

Wenn darüber hinaus auch noch im heutigen Böhmerwald, die wenigen Hirsche die es dürfen, nach wie vor - und immer häufiger - den Winter ganz ohne Zwang in den abgelegenen und ruhigen aber zunehmend nahrungsreicheren Hochlagen verbringen, dann darf die Frage erlaubt sein, ob besagtes Leitbild noch zu halten ist.

 

Wanderungen (in sicher weit differenzierterer Form, als wir uns das heute vorstellen) wird es auch im Bereich der Böhmischen Masse immer gegeben haben, aber ob reiche Nahrungsgründe gerade in Zeiten winterlichen Nahrungsmangels von ganzen Beständen großer Weidegänger einfach so und auch noch regelmäßig verlassen werden, um sich in bereits von Artgenossen satt besetzten Regionen einem zweifelhaften Schicksal hinzugeben ist schwer nachvollziehbar und erscheint mindestens sehr unwahrscheinlich.

 

Es ist daher möglicherweise auch für unsere winterlichen Böhmerwald-Hochlagen von sehr viel höheren Pflanzenfresser-Beständen, weit jenseits des herkömmlichen Leitbildes auszugehen.  Zumal dann, wenn die ganz neuen Perspektiven aus den Niederlanden bzgl. der dortigen Tierdichten von Rindern, Pferden und Rothirschen mit in die Überlegungen einbezogen werden.

 

Mindestens aber skandinavische Verhältnisse mit Großtierherden im winterlichen borealen Wald dürften den hiesigen Gegebenheiten (vor menschlichem Einfluss) erheblich näherkommen als unsere derzeitige „ökologische Minimum-Lösung“.

 

 

 

 

 

Oder?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Autor:  Thomas Zipp,  Klausenweg 3,  94 089 Neureichenau,  Tel.: 08583-1847,   mail:  thomas.zipp@web.de 

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